Besuch der Tochter einer der Überlebenden der Kindertransporte nach England während des NS-Regimes

Eine Zeitzeugin berichtet

Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 10 der Integrativen Realschule plus Vallendar erhielten am ersten Mittwoch im Juni 2016 Besuch von der Zeitzeugin Judith Rhodes. Ihre Mutter gehörte zu den Überlebenden des NS- Regimes, da ihre Eltern sie mit einem der Kindertransporte nach England schickten.

Judith Rhodes Mutter Ursula Michel, die als christlich- jüdisches Kind (Kinder aus den sog. Mischehen nach den Nürnberger Rassentrennungsgesetzen) während der NS- Zeit verfolgt worden ist, wurde von ihren Eltern mit einem der letzten Kindertransporte im August 1939 nach England geschickt. Dies war vom englischen Parlament genehmigt worden, so dass 10.000 jüdische und nichtarische Kinder nach England gebracht werden konnten, wenn die Finanzierung des Aufenthaltes gewährleistet war.

Dort überlebte sie die Gräuel des NS- Regimes, bei denen beide Elternteile, ihre kleine Schwester Lilli sowie der jüdische Teil der Familie ermordet wurden. Für Ursula war diese Erfahrung traumatisch, da sie nur mit einem kleinen Köfferchen bepackt weggeschickt worden war. Ihre Tochter berichtete, dass sie es nicht verstehen konnte und es sich damit erklärte, dass die Eltern die kleine Schwester Lilli mehr geliebt hätten. Erst viel später erfuhr sie, dass dieses Wegschicken aus der Familie, ihr Leben gerettet hat, und dass nur das älteste Kind einer Familie nach England reisen durfte.

In England angekommen, wurde sie anfänglich in wechselnden Gastfamilien untergebracht, hatte jedoch Glück und wurde von einer Familie aufgenommen. Für ihre Tochter Judith Rhodes gibt es hierdurch immer noch drei Familien: Die deutsche Familie- bestehend aus den Überlebenden, die sie auch regelmäßig besucht hat und die englische Familie, die ihre Mutter aufgenommen hat sowie die Familie ihres Vaters.

Ihre Mutter ging in England zur Schule, machte ihren Abschluss, eine Ausbildung und heiratete schon kurz nach Kriegsende einen Engländer.

Erst nach dem Tode ihrer Mutter begann Judith Rhodes mit der Aufarbeitung der Geschehnisse, die das Leben ihrer Mutter doch so nachhaltig beeinflussten. Sie beteiligte sich an dem Projekt Stolpersteine, und sorgte auch dafür, dass vor dem Haus ihrer Großeltern in Ludwigshafen Stolpersteine für ihre Mutter, die Schwester und die Großeltern gesetzt wurden. Auch an der filmischen Dokumentation über das Leben ihrer Mutter beteiligte sie sich ebenfalls.

Inzwischen reist sie regelmäßig nach Deutschland um Vorträge und Seminare zu halten, an denen junge und alte Menschen teilnehmen.

Sie zeigte uns die wenigen verbliebenen Familienfotos und vor allem das Köfferchen, mit dem ihre Mutter Deutschland verließ. Dieses Köfferchen- so berichtet sie- war immer Teil ihres Lebens und präsent, es war der Aufbewahrungsort für die Nähutensilien der Mutter. Erst viel später erfuhr Judith Rhodes von der ursprünglichen Nutzung.

In dem Köfferchen befanden sich noch eine Strickjacke, Stofftaschentücher, Fotos und einige wenige persönliche Gegenstände der Mutter.

Mit leiser aber eindringlicher Stimme berichtet sie von der Situation ihrer Mutter, davon, wie alles auch noch das Leben der Tochter beeinflusst hat und warnt vor einer möglichen Wiederholung der Geschehnisse, wenn Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile wieder Überhand nehmen sollten. Dies bezieht sie nicht nur auf Deutschland sondern auf die weltweite Situation. Für Judith Rhodes bedeutet all dies, sich anderen Menschen gegenüber offener zu zeigen und mehr Toleranz zu üben. Die anwesenden Schülerinnen und Schüler lauschten ihr voller Interesse. Ihr Vortrag zog sie so sehr in den Bann, dass sie sogar die Sprachbarriere überwanden und auf Englisch interessiert diskutierten.

Es war ein hochinteressanter Vormittag, den man auf jeden Fall wiederholen sollte.